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Abkauübungen oder Wie lernt das Pferd?

Von Melanie Bulmahn, Master Instructor der Ecole de Légèreté


Da stehe ich in der Reithalle neben oder vor meinem Pferd, es ist aufgetrenst, ich habe das Gebiss in der Hand und mache Abkauübungen.

Interessante Fragen von Miteinstellern über das Ausbildungskonzept, warum man das macht oder zu welchem Sinn und Zweck, werden so gut wie gar nicht gestellt. Denn wer Abkauübungen in einem üblichen deutschen Reitstall macht, wird überwiegend ignoriert, belächelt oder sogar angefeindet.

Falls doch mal jemand fragt, was eher nicht passiert, sind es oberflächige Fragen. Ob das Pferd krank sei oder zu jung oder zu alt zum Reiten. Einen schönen Austausch gibt es leider nicht. Und das geht mir als Légèreté-Reiter nicht allein so.

Zwar hat sich mittlerweile ein Teil der Reiterwelt daran gewöhnt, dass wir manchmal neben dem Pferd stehen oder Abkauübungen vom Sattel aus machen. Und es gibt tatsächlich einige wenige, die das für sich auch mal ausprobieren, wenn sie denken, dass keiner zuschaut.

Doch trotz Gewöhnung und ohne sich nutzbare Informationen vom Ausführenden zu holen werden Meinungen kundgetan: „Merkwürdig sieht das aus. Das arme Pferd, man soll doch das Maul in Ruhe lassen“ (und kurze Zeit später wird mit Ausbindern longiert ...). „Nicht effektiv genug, man soll reiten. Das Pferd muss vorwärts gehen, nicht stehen.“ „Im Stand den Hals verdrehen macht den Rücken kaputt.“ Und so weiter und so fort.

Ich werde mich hier nicht weiter damit aufhalten, womit „Im-Stand-Reiter“ in den Reitställen konfrontiert werden oder dies analysieren. Das überlasse ich dem Stallklatsch.

Ich möchte hier über Fakten reden.

Fangen wir beim Pferd selbst an. Wir versetzen uns jetzt in das Pferd hinein, ohne es zu vermenschlichen. – Moment mal, geht das überhaupt? Da fängt das erste bekannte Problem schon an. Über das Pferd gibt es viele Wahrheiten. Viele Wahrheiten, die etliche Bücher füllen …

Um bei den Fakten zu bleiben, schreibe ich deshalb nur über das Lernverhalten des Pferdes. Denn wir sollten schon wissen, wie Pferde lernen, wenn wir sie ausbilden möchten. Haben wir Vertrauen, Verständnis und Kommunikation, steht uns nichts mehr im Wege.

Hierzu möchte ich auf die International Society for Equitation Science (ISES, Internationale Gesellschaft für Pferdewissenschaften) verweisen. Die Verfassung von ISES basiert auf derjenigen der International Society for Applied Ethology (ISAE, Internationale Gesellschaft für Angewandte Ethologie), die samt ihrer Ziele Vorbild bei der Gründung von ISES war.


Die Mission von ISES ist es, die Anwendung objektiver Forschung und fortschrittlicher Praktiken zu fördern, um das Wohlergehen der Pferde in ihrem Zusammenleben mit uns Menschen zu verbessern – was das Lernverhalten des Pferdes mit einbezieht. ISES hat dazu ethische Trainingsprinzipien aufgestellt – Prinzipien über den Umgang mit dem Pferd und wie es uns verstehen und wie es lernen kann.

Die Ecole de Légèreté orientiert sich an den Lehren von Reitmeistern, überwiegend der französischen Reitweise, die zur Reitphilosophie der Leichtheit beigetragen haben, was bedeutet, dass sie jeglichen Einsatz von Kraft oder Zwangsmitteln ausschließt. Durch ISES weiß ich, dass die Prinzipien der Ecole de Légèreté mit den neuesten Erkenntnissen über das Pferdeverhalten übereinstimmen. Damit wurde eine Brücke geschlagen von den alten Reitmeistern bis in die heutige, mit hochtechnisierter Wissenschaft ausgestattete Zeit.


Das Prinzip „Hand ohne Beine, Beine ohne Hand“, angewendet von François Baucher (1796–1873), betont die Bedeutung der Trennung der Hilfen. Das Pferd ist nämlich nicht multitaskingfähig. Es kann sich nur auf eine Sache zugleich konzentrieren. Je nach Temperament, Ausbildungsstand und individuellem Wesen können die Pferde aber mehr oder minder schnell hin und her „switchen“.

ISES schreibt hierzu: „Aufgrund der großen Anzahl von Reaktionen, die bei der Ausbildung des Pferdes gefordert werden (vor allem unter dem Sattel), ist es wichtig, dass alle Signale so eindeutig und so verschieden wie möglich sind, damit das Pferd sie unterscheiden kann. Dies ist wichtig, um Verwirrung beim Pferd zu vermeiden, was zu unerwünschtem Verhalten und Stress führen kann.“

Daraus ergibt sich das fünfte Trainingsprinzip von ISES, „Antworten eine nach der anderen fordern“:

„Erfüllt Ihr Training die Bedingung, dass einzelne Signale/Hilfen zeitlich voneinander getrennt vermittelt werden? Werden dem Pferd mehrere Signale gleichzeitig gegeben, kann dies dazu führen, dass es weniger mit dem gewünschten Verhalten reagiert. Dies liegt daran, dass das Pferd nicht in der Lage ist, zwei oder mehr Signale gleichzeitig zu verarbeiten, da beide um die Aufmerksamkeit des Pferdes konkurrieren. Insbesondere sollte die gleichzeitige Verwendung gegensätzlicher Signale (z.B. Beschleunigung und Verlangsamung) vermieden werden. Gerade in der Anfangsphase des Trainings sollten die Signale zeitlich gut voneinander getrennt werden, später können sie auch dichter aufeinander folgen.“

„Auswirkungen auf das Wohlergehen des Pferdes: Die gleichzeitige Verwendung gegensätzlicher Signale kann das Pferd verwirren, weil dadurch die erlernte Verbindung zwischen Signal und Verhalten/Reaktion geschwächt wird. Dies kann schnell zu Stress und damit zu Reaktionen führen, die sowohl die Leistung und das Wohlbefinden des Pferdes als auch die Sicherheit des Reiters beeinträchtigen.“


Kurzum, auch die moderne Pferdewissenschaft empfiehlt, das Prinzip „Hand ohne Beine, Beine ohne Hand“ anzuwenden.

Schon damals schrieb François Baucher: „Durch Vermeiden des gleichzeitigen Einsatzes von Hand und Bein wird das Pferd klarer verstehen, was wir von ihm wollen, und der Reiter wird genötigt, bei der Verwendung seiner Hilfen vorsichtiger zu sein, da alle Fehler, die er macht, sofort und vollständig zu sehen sind.“

Kombinieren wir die Trennung der Hilfen mit dem ebenfalls von ISES empfohlenen „Shaping“, sind Abkauübungen der ethisch korrekte Weg, dem Pferd das Gebiss zu erklären und es ihm buchstäblich schmackhaft zu machen: „Shaping ist ein Prinzip aus der Verhaltenspsychologie, das von Tiertrainern vieler verschiedener Spezies angewendet wird. Es geht darum, zielgerichtet einen Ansatz der gewünschten Antwort zu erzeugen, diesen zu belohnen und dann Schritt für Schritt weiterzuentwickeln, bis die gewünschte Antwort erreicht ist. Ein Delphin kann nicht lernen, zwei Rückwärtssalti gleichzeitig mit einem anderen Delphin zu machen, wenn er nicht erst einmal dafür belohnt wird, dass er lediglich seine Nase aus dem Wasser steckt. Ein schlechter Gebrauch des Shapings kann zu Verwirrung und damit zu Reaktionen führen, die das Verständnis und die Leistung des Pferdes beeinträchtigen.“

Kommen wir von der Theorie zur Praxis. Warum sollten wir denn dem Pferd das Gebiss schmackhaft machen?


Zunächst einmal kann ich nicht vom Pferd erwarten, dass es weiß, was das Trensengebiss im Maul bedeutet. Ich kann nicht erwarten, dass es widerstandslos und unbesorgt das tut, was ich mir vorstelle. Es wurde einfach nicht mit dem Gebiss im Maul geboren. Genauso wenig, wie es einen eingebauten Knopf in den Flanken des Pferdes für das Vorwärtsgehen gibt, gibt es einen eingebauten Knopf im Maul für die gewünschte Reaktion auf das Gebiss!

Jedes Pferd reagiert seiner Individualität und seinem Temperament entsprechend auf das Gebiss. Dazu gehören einrollen, drauflegen, ziehen, Kopf schütteln, gähnen, tot stellen, rückwärts laufen, steigen, kauen … Die Liste an Reaktionen ist lang.

Und die Reaktionen der Menschen darauf sind ebenso unterschiedlich. Die einen nehmen das Gebiss wieder heraus und reiten gebisslos, es wird analysiert, dass das Pferd das Gebiss nicht mag. Die anderen schnüren das Maul zu, damit das Pferd keinen Unsinn lernt. Wiederum andere lassen den Ausbinder die Arbeit erledigen, das Pferd zum Nachgeben zu bringen, und einige meinen, dass Zeit und Gewöhnung alleine das Problem lösen werden.

Es ist aber ganz normal, dass Pferde verschiedene Dinge ausprobieren. Um die Tendenz der Tiere zu studieren, eine Reihe von Reaktionen auszuprobieren, führte Dr. Andrew McLean Versuche mit 50 jungen Pferden (Vollblütern und europäischen Warmblütern) durch, die zwar an den Reiter auf ihrem Rücken gewöhnt waren, aber noch keinerlei Hilfen kannten. Die Pferde zeigten verschiedene Reaktionen auf den Schenkeldruck. Rückwarts gehen, seitwärts gehen, nichts tun, zur Seite schauen usw. Nur 12 Prozent der Pferde gingen vorwärts. Dies zeigt uns, das Vorwärts gehen auf Schenkeldruck ein erlerntes Verhalten ist.

Übrigens ist es damit auch nicht schwer zu verstehen, wie falsche Reaktionen des Pferdes in der frühen Ausbildung versehentlich verstärkt werden können.

Wie mache ich mich dem Pferd nun so verständlich, dass ich ihm gegenüber effektiv und fair bin? Dass es schnell versteht, welche Reaktion erwünscht ist?


Der Trainingsplan der Légèreté sieht als ersten Schritt die Schulung auf die Hilfen von Hand und Bein vor. Dabei gilt die strenge Trennung von Hand und Bein, was – wie wir nun wissen – früher wie heute ein Muss ist, damit das Pferd uns verstehen kann.

Die Abkauübungen erklären dem Pferd das Gebiss. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie nur bei jungen Pferden sinnvoll sind. Denn die Schulung auf die Hilfen, die Verfeinerung der Hilfen sind immer präsent und stehen nicht nur am Anfang der Ausbildung.

Bei den Abkauübungen konzentriert sich das Pferd nur auf das Gebiss. Dadurch bringen wir dem Pferd bei, die Trense zu verstehen, sich zu lösen und zu entspannen. Zu akzeptieren, den Hilfen nachzukommen, und damit zu lernen, in einem ständigen leichten Kontakt zur Hand zu bleiben, die Balancierstange Hals dem Reiter zur Verfügung zu stellen und sogar, das Gleichgewicht nach hinten zu verlagern.

Durch die Trennung der Hand vom Bein minimiere ich die Möglichkeit, dass mein Pferd unklare oder gegensätzliche Signale erhält oder gar abgelenkt wird. Die Hand wird vorhersehbar für das Pferd, es lernt genau, die unterschiedlichen Signale zu differenzieren. Im Stand ohne Reiter kann es nicht versehentlich etwas missverstehen, weil keine sonstigen Eindrücke durch die Vorwärtsbewegung es ablenken könnten. Ich handle dem Lernverhalten meines Pferdes entsprechend. Wenn das Pferd weiß, was ich möchte, wird es das auch tun. „Das Pferd tut eins von zwei Dingen. Es tut, was es denkt, dass es tun soll, oder es tut, was es denkt, dass es tun muss, um zu überleben.“ (Ray Hunt)

Wie kann es möglich sein, dass Abkauübungen so exotisch wirken in der heutigen Zeit? Die Abkauübungen wurden schließlich nicht von Philippe Karl erfunden und sind auch nicht etwas komplett Neues! Und François Baucher war auch nicht der Einzige, der diese angewendet hatte. Schauen wir in die Heeresdienstvorschrift H.Dv.12:

Abkauenlassen und Biegen an der Hand:

Es hat den Vorteil, daß es bereits vorgenommen werden kann, bevor das Pferd gelernt hat, das Gewicht des Reiters zu tragen, und ehe es den Schenkelhilfen gehorcht.

Der Reiter stellt sich vor das Pferd (…).“

(H.Dv.12 Reitvorschrift 1934)


Habe ich das richtig gelesen? Abkauübungen in der Deutschen Reitdienstvorschrift? Oh ja!

Bei Wikipedia kann man über die H.Dv.12 lesen: „Die Reitvorschrift H.Dv.12 befasst sich mit der Ausbildung von Pferden und Reitern für den Einsatz in Kavallerieeinheiten. Viele der Ausbildungsregeln sind nach dem Zweiten Weltkrieg in die moderne Pferdeausbildung nach den Richtlinien der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) eingeflossen. Die H.Dv.12 basiert auf einer Neufassung von Reitinstruktionen im Jahr 1882. Diese fasste gesammeltes Wissen in der Kavallerieausbildung seit dem 18. Jahrhundert zusammen. Diese Reitinstruktionen wurden 1912 und 1926 überarbeitet und als Heeresdienstvorschrift 12 nochmals 1937 überarbeitet.“

Die H.Dv.12 fasst also die Richtlinien der deutschen Reiterei zusammen und beeinflusste die Richtlinien der deutschen FN und der internationalen reiterlichen Vereinigung FEI. Es ist ein kleines Buch, es steht also nur das Wichtigste zusammengefasst darin. Und eine Beschreibung der Ausführung der Abkauübungen nimmt einen Teil davon ein. Zudem wird betont, dass das Pferd zuerst im Unterkiefer nachgeben soll und nicht im Hals. Die Abkauübungen waren so wichtig, dass sie auch nach vier Überarbeitungen immer noch erwähnt wurden.

Wie kann es dann sein, dass in der heutigen Zeit etwas, das Jahrhunderte praktiziert wurde, im üblichen Reitsport exotisch geworden ist?

Abkauübungen wurden übrigens schon im 16. Jahrhundert praktiziert, in der Renaissance, was darauf schließen lässt, dass sie noch viel älter sind und bis in die Antike zurückreichen könnten.

Ich möchte Ihnen Friedrich von Krane (1812–1874) vorstellen. Er war ein deutscher Oberst der Kavallerie und Zeitzeuge. In seinem Buch „Anleitung zur Ausbildung der Cavallerieremonten“ ist unglaubliches Wissen gespeichert. Er schrieb mitunter: „Die Zügelhilfe wirkt direkt auf den Unterkiefer, daher sind diese Muskeln die ersten, die Widerstand leisten. (...) Viel Widerstand, von dem man denkt, dass er vom Hals und von anderen Körperteilen ausgeht, kommt von den Kaumuskeln. Die Überwindung dieses ersten Ungehorsams gegen das Gebiss ist einer der ersten und wichtigsten Bestandteile der Dressurarbeit.“

Aus diesem Satz hört der aufmerksame Leser gleich heraus, dass es früher schon die „Genickreiter“ und die „Maulreiter“ gab.


Friedrich von Krane hat das Nachgeben im Unterkiefer sehr genau beschrieben. Er lebte in einer Zeit, in der man darüber diskutierte, ob es Sinn machen würde, die seitlichen Biegeübungen in die Kavallerie einzuführen. Wie er in seinem Buch schreibt, war damals die Mehrheit davon überzeugt, dass sie für die Kavalleristen zu schwierig sein würden, weil deren Ausbildungsgrad zu niedrig war!

Dazu muss ich erwähnen, dass die Reiterei bis Anfang des 20. Jahrhunderts dem Adel und der Kavallerie vorbehalten war. Die Reitkunst wurde damals also an den einfachen Mann, an eine breitere Masse weitergegeben.

Wie wir heute wissen, wurden die Biegeübungen nicht in den heutigen Sport übernommen. Und der Beweggrund dafür war es, die Ausbildung des Pferdes für den Reiter einfacher zu machen!

Die Schulung der Abkauübungen und das Nachgeben im Maul verschwanden daher schleichend.

Zur Vereinfachung der Pferdeausbildung.

Bitte nochmal lesen: zur Vereinfachung der Pferdeausbildung.

Wem kommt das zugute? Dem Pferd wohl nicht!

Alles weitere können Sie sich denken …

Ich persönlich werde weiterhin vor oder neben meinem Pferd stehen mit dem Trensengebiss in der Hand, wohl wissend, dass die Schulung auf das Gebiss mit Abkauübungen beginnt. Ich werde die Trennung der Hilfen einhalten und in kleinen Schritten (Shaping) meinem Pferd erklären, was ich möchte. Ich wähle bewusst die klassisch intelligente Form der Ausbildung und nicht die vereinfachte – zum Wohle des Pferdes.


Um mit den Worten Philippe Karls abzuschließen:

„Eine durchdachte, das Pferd respektierende Ausbildung muss mit dem Nachgeben im Unterkiefer (,cession de mâchoire‘) beginnen.“


Melanie Bulmahn




Referenzen:

Philippe Karl, „Irrwege der modernen Dressur“

Andrew Mc Lean, „Academic Horse Training“ und „Equitation Science“

H.Dv.12 Reitvorschrift 1934

International Society for Equitation Science (ISES, equitationscience.com)

Friedrich von Krane, „Anleitung zur Ausbildung der Cavallerieremonten“

François Baucher

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